Chemiebranche fürchtet wegen Energiepreisen «Talfahrt»
Die besonders energieabhängige Chemiebranche dringt auf schnelle Entlastungen, um den Standort Deutschland nicht zu gefährden. «Die Energiekosten müssen runter, vor allem mit Blick auf den desolaten Zustand der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland - gesunde Industriestrukturen drohen unwiederbringlich beschädigt zu werden», sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie Baden-Württemberg, Winfried Golla, der Deutschen Presse-Agentur. Es gehe darum, «unserem industriellen Kern in Zeiten hoher Energiekosten das Überleben und eine Zukunft am Standort Deutschland zu ermöglichen».
Dass die Energiepreisbremsen schnell umgesetzt worden seien, sei gut, sagte Golla. «Dass die dringend notwendige Entlastung nun aber zu spät oder nur sehr eingeschränkt bei den Unternehmen ankommen, ist fatal.» Statt unbürokratisch zu helfen seien Hürden für die Gas- und Wärme- sowie die Strompreisbremse weiter aufgebaut worden, die weder energieintensive Großunternehmen noch der Mittelstand bewältigen könnten, kritisierte der Hauptgeschäftsführer: «Neben der ungenügenden Förderobergrenze und dem Zwang zu Rückstellungen kommt nun noch eine Boni- und Dividendenregelung, die an den Realitäten in den Unternehmen meilenweit vorbeigeht.»
Boni und Dividenden seien oft feste Bestandteile von Arbeitsverträgen oder gerade in mittelständischen Familienunternehmen ein wesentlicher Bestandteil des Einkommens, erklärte Golla. «Ein Dividendenverbot schreckt zudem vor allem ausländische Investoren ab und stellt somit ein handfestes Handicap im globalen Wettbewerb dar.» Auch die mit den Energiepreisbremsen verbundene Pflicht, Arbeitsplätze zu erhalten, «nimmt speziell dem durch die Energiepreiskrise in Not geratenen Mittelstand die Luft zum wirtschaftlichen Atmen».
«Wenn die Politik nun nicht zeitnah nachbessert, wird sich die Talfahrt unserer Unternehmen in 2023 fortsetzen», mahnte Golla. «Weitere Investitionsstopps und Produktionsverlagerungen ins Ausland bis hin zu Betriebsschließungen wären die Folge.»
Auch der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Chemie Baden-Württemberg, Björn Sucher, forderte «einen Wandel hin zu einem modernen Zukunftsstaat mit investitionsfreundlicheren Rahmenbedingungen». Die Initiative aus Wirtschaft, Städten und Gemeinden sowie baden-württembergischen Finanzinstitutionen für einen «Zukunftskonvent» sei eine Chance: «In einem durch Krieg, Pandemie und Klimawandel krisengeprägten Umfeld muss der Staat aufhören, sich zu viel mit sich selbst zu beschäftigen», sagte Sucher. «Der Staat sollte vielmehr zukunftsgestaltende Aktivitäten erleichtern und nicht durch eine überbordende Bürokratie verhindern.»
Kommunen und Wirtschaft haben Ministerpräsident Winfried Kretschmann aufgefordert, einen «Zukunftskonvent» einzuberufen, «um einen Wandel hin zu einem modernen Zukunftsstaat mit verlässlichen und umsetzbaren Zusagen» anzustoßen. Sucher sagte: «Unser Staat, unsere Gesellschaft insgesamt - und damit auch die Wirtschaft, auch die Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie, haben großes Potenzial für zukunftsweisende Innovationen - gerade auch in den Bereichen Energie, Digitalisierung, Klimaschutz.» Ein «Weiter so» dürfe es nicht geben. «Uns muss endlich einmal ein großer Wurf gelingen.»
In den Verbänden der chemischen und pharmazeutischen Industrie in Baden-Württemberg sind 480 Unternehmen mit rund 108.000 Beschäftigten organisiert. Die Mehrzahl sind kleine und mittelständische Betriebe. 80 Prozent haben weniger als 300 Mitarbeiter. Der Umsatz der Branche im Südwesten betrug 2021 etwa 46 Milliarden Euro. Die größten Teilbranchen sind Pharma (37 Prozent), Lacke, Farben und Bautenschutz (12 Prozent) sowie Leime, Klebstoffe und Mineralöl (8 Prozent).